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Zusammenfassung: „Das Problem der Prostitution“ – Repressive Politik im Namen von Migrationskontrolle, öffentlicher Ordnung und Frauenrechten in Frankreich (Charlène Caldero, Calogero Giametta)

In Frankreich wurde im Jahr 2016 das sogenannte „Nordische Modell“ durch den Erlass eines Sexkaufverbots umgesetzt (Loi n° 2016-444). In diesem Artikel diskutieren die Autor*innen dazu drei wesentliche Thesen:

  1. In der französischen Debatte vereinigten sich feministische mit konservativen neo-abolitionistischen Strömungen, um die neue Gesetzgebung auf den Weg zu bringen. Neo-Abolitionismus bezeichnet hierbei die Bewegung, welche Prostitution durch Kriminalisierung von Kund*innen und Dritten reduzieren oder abschaffen möchte und Sexarbeitende als Opfer der patriarchalen Gesellschaftsordnung sieht.
  1. Die Auswirkungen des Sexkaufverbots stehen in einer Linie mit denen der 2003 in Kraft getretenen Werbeverbots für sexuelle Dienstleistungen (art. 225-10-1) – mit dem Unterschied, dass sich die Bedingungen für Sexarbeiter*innen durch die Gesetzgebung von 2016 noch mehr verschlechtert haben.
  1. Das „Problem der Prostitution“ (das hier als soziales Konstrukt verstanden werden soll) ist eingebettet in den erweiterten Kontext von Befürchtungen über Sexismus in einkommensschwachen Vierteln sowie das Bedürfnis, Migration zu kontrollieren.

Basis des Artikels sind Daten aus einer bis 2020 gelaufenen Studie zum Verhältnis von Migration, Sexarbeit und Menschenhandel in der weltweiten Sexindustrie.  Darüber hinaus wurden zwischen 2016 und 2018 Interviews geführt, die mit Sexarbeiter*innen, Sozialarbeiter*innen und am politischen Entscheidungsprozess Beteiligten.

Wie in vielen anderen Ländern werden in der französischen Debatte die Themen Menschenhandel und Prostitution miteinander vermischt. Bereits seit den 1990ern steigt durch die zunehmende Sichtbarkeit von Sexarbeiter*innen mit Migrationshintergrund die Bereitschaft, sich auf politischer Ebene mit dem Thema Prostitution auch im Kontext von Migration auseinanderzusetzen. 

Im Jahr 2012 verbinden sich Frauenrechtsbewegungen und neo-abolitionistische gemeinnützige Organisationen zum Collectif Abolition 2012, das sich die Abschaffung der Prostitution zum Ziel setzt. Berichten zufolge ist insbesondere die katholisch geprägte Mouvement du Nid die treibende Kraft hinter dem Gesetz von 2016.

Dem voraus ging – nach dem nordischen Modell – die Diskussion darüber, dass Sexarbeiter*innen (vornehmlich Frauen) nicht länger als Kriminelle, sondern als Opfer verstanden werden, die vor Gewalt und Menschenhandel geschützt werden müssen und denen ein Ausweg aus ihrer prekären Lage geboten werden soll. 

Für viele Feministinnen in der französischen politischen Landschaft existiert das Problem von Frauenfeindlichkeit und patriarchaler Vorherrschaft überwiegend in einkommensschwachen Gegenden, in denen viele Menschen (Männer) mit Migrationshintergrund leben. Das führt dazu, dass die Politik gleichzeitig das Kopftuch, das als Mittel zur Unterdrückung von Frauen gesehen wird, und die Prostitution abschaffen will, um die Gleichberechtigung von Frauen zu erreichen.

Weder Hijab-tragende Frauen noch Sexarbeiter*innen wurden jedoch hinreichend in die politische Debatte um den Gesetzentwurf mit einbezogen. Vielmehr basiert diese vornehmlich auf der moralischen Panik vor Menschenhandel, von dem Schätzungen zufolge aber nur ein Bruchteil der in der Sexarbeit tätigen Personen betroffen sind. 

Die Auswirkungen des Sexkaufverbots zeigen sich in der Realität in einer Verschlechterung der Lage derer, die es schützen soll.

Die Autor*innen verstehen die aktuelle Gesetzgebung als Versuch staatlicher Kontrolle über sozial „abweichende“ Personenkreise, die die strukturellen und sozioökonomischen Probleme verkennt, die tatsächlich zu Menschenhandel und Ausbeutung führen.

 

Quelle:

C Calderaro and C Giametta, ‘“The Problem of Prostitution”: Repressive policies in the name of migration control, public order, and women’s rights in France’, Anti-Trafficking Review, issue 12, 2019, pp. 155-171, www.antitraffickingreview.org.

 

Mehr lesen:

Studie aus den USA zu den Auswirkung des nordischen Modells auf Menschen in der Sexarbeit (Zusammenfassung)

Report von Amnesty Irland (2022) zu den Auswirkungen des nordischen Modells auf Menschen in der Sexarbeit (Zusammenfassung)

Positionierung von Amnesty International zu Sexarbeit (2016)

Weitere Informationen rund um das Thema „nordisches Modell“