Die sogenannte Forschung der Melissa Farley

Ein Beitrag von Sexarbeiterin und politischer Mitarbeiterin des BesD, Emma Sophie Roe


In der Welt der Sexarbeiter*innen ist der Name Farley zum Symbol für sogenannte Wissenschaft geworden, die von SWERFs (Sexwork Excluding Radifcal Feminists) und sexarbeitsfeindlichen Vertreter*innen wie Farley selbst genutzt wird, um unsachliche, Sexarbeit stigmatisierende Meinung als wissenschaftliche Fakten zu verkaufen.

Farley ist dabei bei weitem nicht die Einzige, die bei dem Versuch über Sexarbeiter*innen zu forschen, uns kategorisch als hilflose zu rettende Opfer darstellt. Und nicht differenziert, dass wir nicht alle gleich, nicht alle Frauen und nicht an ihrer Auslegung von „Hilfe“ interessiert sind.

Trotzdem werde ich in diesem Artikel anhand von Farley als Beispiel erläutern, warum so viel Forschung zum Thema Sexarbeit problematisch ist und vor allem, warum diese Forschung keine gute wissenschaftlichen Quelle darstellt.

Hier kommen mehrere Begriffe zusammen, die es zunächst einzuordnen gilt, um im weiteren Verlauf besser mit ihnen arbeiten zu können. Den Begriff der Sexarbeit, den der Wissenschaft bzw. der Forschung und den der Stigmatisierung von Sexarbeiter*innen.

Ziel dieses Artikels ist es darzustellen, was schlechte Wissenschaft über Sexarbeit ausmacht und woran wir uns stattdessen halten sollten, wenn wir die Lebens- und Arbeitsrealitäten von Sexarbeitenden verstehen, erforschen und darstellen wollen.


Sexarbeit und die Lebens- und Arbeitsrealitäten von Sexarbeiter*innen

Der Begriff Sexarbeit hat seinen Ursprung 1978 und wurde geprägt durch Sexarbeiter*in und Aktivistin Carol Leigh. Er beschreibt Menschen, die ihre sexuellen Dienstleistungen (Prostitution, Strippen, Cam-Shows, Telefonsexhotlines etc.) gegen Geld oder andere Güter anbieten (Mac u. Smith, 2018). Er ist also ein Sammelbegriff für alle möglichen Formen sexueller Dienstleistungen. Sexarbeit ist schon allein deshalb enorm vielfältig. Hinzu kommt zusätzlich, dass, ähnlich wie in anderen Berufsfeldern auch, Arbeitsumstände stark variieren. Allein Prostitution kann in so vielen verschiedenen Varianten ausgeführt werden. Der Arbeitsort kann auf der Straße, im Auto, im Hotel, im Bordell, im Laufhaus, bei Kund*innen zuhause, im Wald, bei der Sexarbeiter*in in der Arbeits- oder Privatwohnung, im Club, Massagesalon oder an ganz anderen Orten sein.

Zusätzlich kommt die Vielfalt der angebotenen Praktiken, die Unterschiede der einzelnen Einkünfte und die sonstigen Lebensumstände beeinflussend hinzu. Eine Mitte 40-Jährige mit einer Agentur arbeitende Mutter in einer Großstadt, arbeitet unter anderen Einflüssen als ein Mitte 20-jähriger queerer Mann über Kleinanzeigen in der Kleinstadt oder eine Person mit Migrationshintergrund in Sachsen-Anhalt, deren Sprachkenntnisse mit der deutschen Bürokratie nicht funktionieren.

Sexarbeit ist also nicht gleich Sexarbeit, nicht alle Sexarbeiter*innen sind Frauen und die Lebens-und Arbeitsrealitäten von uns Sexarbeitenden sehr vielfältig.

Dies gilt es dringend zu berücksichtigen und zu differenzieren, wenn Mensch sachlich über Sexarbeiter*innen schreiben oder gar forschen möchte. Eine qualitativ hochwertige und sachliche Auseinandersetzung bedarf eine genaue Einordnung darüber, welche Form von Sexarbeit erforscht, wie arbeitenden Personen für die Forschung ausgewählt und wie Methodik angepasst wurde, um über genau diese Sexarbeitenden zu forschen.

 

Aber Wissenschaft ist doch objektiv und auf Zahlen ist Verlass…….oder?

Die kurze Antwort ist: Nein.

Die lange Antwort ist: Nein, aber komplexer.

Grundsätzlich sind zwei Dinge festzuhalten. Erstens, Wissenschaft wird von Menschen gemacht und Menschen sind nicht objektiv.

Zweitens, es gibt keine verlässlichen grundlegenden Zahlen zu Sexarbeiter*innen!

Wir wissen nicht, wie viele Sexarbeiter*innen es in Deutschland genau gibt. Und wir wissen nicht, welche von diesen Sexarbeiter*innen welche Form von Sexarbeit unter welchen Bedingungen wie genau ausführen. Geschweige denn, welche Marker an Geschlecht(-sidentität), Herkunft, Race, Be_hinderung, (chronischer) Erkrankung, Aufenthalts- und Versicherungsstatus, Familienstand, Deutschkenntnissen, Prekarität der Arbeit und eigenes Verhältnis zur Arbeit etc. vorliegen.

Wenn also ein Artikel, ein Beitrag oder gar eine wissenschaftliche Arbeit unbelegte Allgemeinaussagen trifft, wie z.B. „XYZ %“ oder auch „ein Großteil“ der Sexarbeiter*innen wäre z.B. drogenabhängig, würde unfreiwillig arbeiten oder *füge beliebige andere prekären Leben- oder Arbeitsumstand ein*, dann sind das schlicht keine Fakten, sondern maximal Schätzungen oder Vermutungen.

Damit möchte ich nicht sagen, dass auf Sexarbeitsforschung kein Verlass ist und immer zu wenig Objektivität unter Forschenden herrscht, damit die Forschungsarbeit aussagekräftig sein kann. Im Gegenteil, es gibt wirklich gute, differenzierte, sachliche, kritische Forschung zum Thema Sexarbeit. Ich möchte nur darauf verweisen, dass es, gerade bei gesellschaftlich so kontroversen Themen wie Sexarbeit enorm wichtig ist, diese Kontroverse mit einzubeziehen und die eigene Position zu hinterfragen. Damit meine ich, dass sowohl die forschende als auch die Forschung lesende Person kritisch hinterfragen müssen, ob fundierte Herangehensweisen und Methoden gewählt wurden und sich Mühe gegeben wurde, möglichst objektiv und sachlich an das Thema heranzutreten. Oder ob nur Hinweise für von Stigmatisierung, Sexarbeitsfeindlichkeit oder Sexarbeitsidealisierung geprägte Vorannahmen gesucht und aufgrund dessen auch gefunden wurden.

 

Aber wie funktioniert das mit der guten Sexarbeitsforschung dann?

Mit guter Methodik, Sachlichkeit, einer transparenten Darstellung der Vorgehensweise und Kontext!

Genauso wie Sexarbeit nicht gleich Sexarbeit ist, ist Wissenschaft nicht gleich Wissenschaft. Zunächst ist zu berücksichtigen, dass in Abhängigkeit davon aus welcher Disziplin die forschende Person kommt, sie unterschiedliche Methoden und Perspektiven mitbringt, mit denen sie arbeitet. Ein*e Theolog*in wird eine andere Perspektive und Methodik mitbringen als ein*e Soziolog*in, Philosoph*in, Kriminolog*in, Ethnolog*in, Juristi*in oder Geschlechterforscher*in.

Trotzdem arbeiten alle mit Methoden. Und gutes methodisches Vorgehen sollte davon gekennzeichnet sein, zu versuchen subjektive Vorannahmen der Forschenden auszugleichen und sich an die Beforschten und die Fragestellung der Forschung anzupassen.

Am einfachen Beispiel von Interviewfragen ist nicht nur relevant, wer in Bezug zur Forschungsfrage interviewt wird, sondern auch wie die Interviewfragen formuliert sind und ausgewertet werden.

Das ist so wichtig, weil die Wahl wer erforscht wird und mit welcher Vorgehensweise gearbeitet wird, das Ergebnis und wie dieses zu bewerten ist, stark beeinflusst. Denn die gewonnenen Erkenntnisse einer wissenschaftlichen Arbeit stehen immer in Zusammenhang mit der Vorgehensweise und dem Kontext in dem und mit der diese Erkenntnisse gewonnen wurden. Ohne diese sind die Aussagen der Forschung nicht aussagekräftig!

Auch spielt eine Rolle, wie die Forscher*in die eigenen Erkenntnisse ausformuliert und belegt. Besonders wie sachlich die forschende Person sich dabei ausdrückt, Beobachtungen beschreibt, ihre eigene Perspektive reflektiert und mit anderen Perspektiven umgeht, sind ein guter Anhaltspunkt, um die Qualität qualitativer Forschung zu beurteilen.

Denn Aussagen in wissenschaftlichen Arbeiten müssen belegt und transparent nachvollziehbar sein. Nicht belegte Behauptungen, Meinungen und Verallgemeinerungen sind keine wissenschaftlichen Aussagen.

Wenn Farley also von „Schlägertypen“ [von mir aus dem Englischen übersetzt] (Farley, 2004) schreibt, damit allgemein (cis-hetero-männliche) Kunden von Sexarbeitenden meint und so impliziert, dass Kunden generell gewalttätig seien, ohne dies jedoch zu belegen, ist dies ihre unsachliche, unwissenschaftliche Meinung und keine wissenschaftlich belegte Aussage. Was sie als Person mit einem wissenschaftlichen Titel eigentlich auch wissen sollte.

Deshalb ist es, um das Ergebnis einer wissenschaftlichen Arbeit einordnen und verstehen zu können, absolut notwendig, sich nie nur die gewonnenen Erkenntnisse alleinstehend anzuschauen, sondern immer auch wie und in welchem Kontext die Forschende zu diesen gekommen ist.

 

Was bedeutet das in Bezug auf Farley und Co.?

Melissa Farley betreibt nicht nur Forschung zum Thema Sexarbeit, sondern setzt sich auch sehr aktiv aktivistisch gegen Sexarbeit ein, da sie diese grundsätzlich als Gewalt gegen Frauen sieht (Weitzer, 2005).

Sie geht ihre Forschung also nicht als Erforschung von Arbeitenden und deren Lebens-und Arbeitsbedingungen an, sondern als Erforschung von Gewalttaten. Dies spiegelt sich selbstverständlich in ihrer Herangehensweise und sog. Forschung wieder. Beispielsweise in ihrer Auswahl an zu erforschenden Sexarbeitenden. Sie findet ihre Interviewpartnerinnen z.B. in Beratungsstellen für Sexarbeitende oder im Krankenhaus, wo die Sexarbeitenden von der Polizei hingebracht wurden aber auch in einzelnen Bordellen und auf der Straße, ohne jedoch darzustellen, wie und warum diese gewählt wurden (Weitzer, 2005).

Bei Beratungsstellen und in Krankenhäusern landen Sexarbeiter*innen natürlich nicht, wenn es ihnen gerade gut geht, sie hauptsächlich zufrieden, gesund und sicher leben und arbeiten. Auch Organisationen, die Sexarbeiter*innen beim Ausstieg aus der Sexarbeit unterstützen, nimmt Farley als Ort, um mit den von ihr erforschten Sexarbeitenden in Kontakt zu treten. In Beratungsstellen für drogenabhängige Frauen, die die Sexarbeit hauptsächlich als Mittel zur Drogenbeschaffung nutzen, sog. Beschaffungssexarbeit, findet Farley ebenfalls ihre Interviewpartner*innen.

Dabei wäre das nicht ihre einzige Möglichkeit über Organisationen, Vereine oder Arbeitsplätze mit Sexarbeiter*innen in Kontakt zu treten. Denn es gibt auch Organisationen und Vereine von und für Sexarbeiter*innen, die sich selbstverwaltet für ihre Arbeits- und Antidiskriminierungsrechte einsetzten. Dazu gibt es Sexarbeitende, die nicht auf der Straße oder in Bordellen arbeiten. Denn gerade auf der Straße arbeitende Sexarbeitende sind vermehrt von Gewalt betroffen (ICRSE 2020). Farley hätte also die Möglichkeit, für ihre Forschung über andere Organisationen, Agenturen, Onlineanzeigen oder mit anderen vermutlich weniger prekär arbeitenden und lebenden Sexarbeitenden in Kontakt zu treten. Tut sie aber nicht. Sie erforscht ganz gezielt, mit ihrer sehr sexarbeitsfeindlichen Perspektive, ausgewählt nur die Sexarbeitenden, die unter besonders schwer marginalisierten Bedingungen leben und arbeiten.

Ronald Weitzer kritisiert in „Flawed Theorie and Method in Studies of Prostitution“ außerdem, dass sie ihre sexarbeitsfeindliche Meinung durch ihre Wortwahl in ihre sog. Forschung einfließen lässt. „Diese Männer“ [Kunden] sollten als „Schlägertypen“ nicht als Kunden betrachtet werden (Farley 2004). Auch Begriffe wie „Sexualstraftäter“ und „prostitute users“ also grob übersetzt Benutzer von Prostituierten, dämonisieren Kunden und entmenschlichen Sexarbeiter*innen. Auch Sexarbeiter*innen selbst werden, nicht wie von ihnen bevorzugt als „Sexarbeiter*innen“, „Arbeiter*innen“, „arbeitende Frauen“, oft nicht einmal als „Prostituierte“, sondern stattdessen als „prostituierte Frauen“ oder „Überlebende“ benannt. Was impliziert, dass die Sexarbeit, wie sexualisierte Gewalt, etwas ist, was gegen den Willen der Frauen mit den Frauen gemacht wird. Also etwas, was sie nicht gewählt haben, sondern was ihnen angetan wird.

Solche Worte zu wählen hat eine subtile und starke Wirkung. Denn Farley füttert durch ihre Sprache – zusätzlich zu ihrer verzerrten Darstellung von Sexarbeitenden und deren Arbeits- und Lebensumständen – das Narrativ, dass Sexarbeit etwas grundsätzlich Gewaltsames und Kunden Gewalttäter seien. Lesende speichern diese Information über die gewählten Worte ab, ohne dass dies jedoch empirisch belegt wäre.

Farley geht jedoch noch einen Schritt weiter und trifft auch gezielt Falschaussagen wie:

Johns [Kunden] are regularly murderous toward women” (Faley 2004)

Farley behauptet also, dass Kunden sich regulär nicht nur gewalttätig, sondern sogar mörderisch gegenüber Frauen verhielten, obwohl ihr von Sexarbeitenden selbst und in methodisch sachlicher differenzierteren und Forschungsarbeiten vehement widersprochen wird. (Monto, 2000 ; ICRSE 2020)

Damit möchte ich nicht behaupten, dass es keine oder nur insignifikante Gewalt gegen Sexarbeitende gäbe. Dem ist so nicht. Aber die Gründe für Gewalt gegen Sexarbeiter*innen sind um einiges komplexer als böse mörderische Kunden und hilflose Sexarbeiter*innen, wie von Farley gerne dargestellt (ICRSE 2020).

In Farleys sog. Forschung wird Gewalt gegen Sexarbeiter*innen sehr viel schwarz-weißer und extremer dargestellt, als sie tatsächlich für viele Sexarbeiter*innen ist. Was logisch ist, wenn wir uns daran erinnern, dass sie aus der Position einer Sexkaufgegenerin, die versucht einfache Lösungen für komplexe Probleme zu finden, forscht und schreibt.

Festzuhalten ist also, dass es Möglichkeiten gibt, um Forschung über Sexarbeit und Sexarbeitende sachlich und differenziert zu gestalten, Farley diese Möglichkeiten aber nicht nutzt. Sie verkehrt dies sogar ins Gegenteil und wendet Methoden an, und stellt Sexarbeit verzerrt dar, indem sie ausschließlich das extreme Ende der sehr marginalisierten Sexarbeiter*innen für ihre Forschung und ihre vorgefärbte Meinung als Basis wählt und dies als repräsentativ darstellt. Dies hat nicht nur die weitere Stigmatisierung und damit Gefahr für Sexarbeitende zu Folge. Sondern auch, dass in und durch Farleys sog. Forschung Sexarbeit sehr viel einseitiger und gewaltsamer wirkt, als sie vermutlich tatsächlich für viele Sexarbeiter*innen ist.