Warum Podiumsdiskussionen über Sexarbeit nie eine gute Idee sind

Neulich landete eine E-Mail in meinem Posteingang – eine Einladung zur Teilnahme an einer Diskussionsrunde mit dem Thema: „Warum Sexarbeit echte Arbeit ist“. Ich wurde gebeten, darüber mit zwei radikalen Feministinnen zu diskutieren. Beide unterstützen regelmäßig und lautstark das Schwedische Modell. Beide glauben, dass Sexarbeit bezahlte Vergewaltigung und Ausbeutung ist.

Ich hätte dort auftreten und erklären können, warum Arbeitsrechte für Sexarbeiter*innen lebenswichtig sind. Meine Stimme wäre gehört worden. Doch ich habe abgelehnt teilzunehmen.

Ich glaube nicht, dass Sexarbeiter*innen es Nicht-Sexarbeiter*innen schuldig sind, ihren Platz in der Welt und ihre Existenz zu rechtfertigen. Diese Art von Interessenvertretung wird nicht bezahlt, ist emotional belastend, zeitaufwendig und bewiesenermaßen sinnlos.

Talkshows oder Podiumsdiskussionen erlauben gar keinen Raum für tiefergehende Gespräche. Bei solchen Auftritten hat jeder nur wenige Minuten Zeit, um sich zu äußern. Es werden erfundene Statistiken über das Alter des Eintritts in die Sexindustrie oder Behauptungen über Menschenhandel heruntergerasselt. Innerhalb dieser kurzen Zeit ist es nicht möglich, Fakten zu überprüfen oder fundierte Gegenargumente vorzulegen.

Das ist besonders frustrierend, wenn die Gesprächspartner, wie in diesem Fall, keine „gelebte Erfahrung“ zu dem Thema Sexarbeit haben – sie also selbst keine Sexarbeiter*innen sind.

Wir sollen also Zeit und emotionale Ressourcen aufwenden, um Nicht-Sexarbeiter*innen gegenüber unsere Grundrechte zu verteidigen. Hierbei handelt es sich um eine Form der sogenannten „epistemischen Ausbeutung“. Der Widerwille gegen eine solche Ausbeutung ist der Grund, warum ich und viele andere Sexarbeits-Aktivist*innen nicht an entsprechenden Veranstaltungen teilnehmen wollen.

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Epistemische Ausbeutung: Was bedeutet das?

 

Der Begriff Epistemologie (auch bekannt als „Erkenntnistheorie“) bezeichnet das Studium des Wissens. Epistemische Ausbeutung ist die Ausbeutung von Wissen, Ressourcen oder Fähigkeiten einer Person mit bestimmten Wissen und Erfahrungen.
Die Philosophin Nora Berenstain argumentiert, dass es epistemisch ausbeuterisch ist, wenn Privilegierte von marginalisierten Gemeinschaften Beweise für ihre Unterdrückung verlangen.
Laut Berenstain findet epistemische Ausbeutung statt „wenn privilegierte Personen marginalisierte Personen zwingen, sie über die Natur ihrer Unterdrückung aufzuklären. [Es] ist gekennzeichnet durch nicht anerkannte, nicht vergütete und emotional anstrengende … epistemische Arbeit”.

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Die Energie der Aktivist*innen wird verbraucht und wir werden gezwungen, wiederholt unsere Daseinsberechtigung zu beweisen und zu erklären – statt uns auf unsere eigene Arbeit zu konzentrieren oder mit Sexarbeiter*innen zu arbeiten, die Unterstützung benötigen.

Warum sollte eine radikale Feministin eine Debatte mit mir oder einer anderen Sexarbeits-Aktivistin führen? Wenn sie nichts lernen wollen, warum sich dann die Mühe machen, überhaupt zu reden? Hier gehen Energie, Arbeit, Zeit und Ressourcen verloren, die besser für soziale Arbeit, gegenseitige Hilfe und Forschung werden könnten. Entweder glaubt man, dass Sexarbeiter*innen Menschen sind, die Arbeitsrechte verdienen, genauso wie jeder andere auch, oder man glaubt es nicht. Es gibt da keine Diskussion.

Was bei Podiumsdiskussion rund um Sexarbeit leider oft stattfindet:

  • Anstatt sich mit Fakten zu beschäftigen, wird – zum Beispiel mit unbewiesenen Behauptungen über die „Zuhälterlobby“ – die Glaubwürdigkeit von Sexarbeiter*innen und die Glaubwürdigkeit ihrer persönlichen Erfahrungen angegriffen.
  • Sexarbeiter*innen haben ein „Glaubwürdigkeitsdefizit“ gegenüber Gegner*innen und zum Teil auch gegenüber den Zuschauer*innen einer Debatte. Uns wird weniger geglaubt, weil wir zu einer Minderheit gehören, deren Erfahrungen oft nicht geglaubt werden. Menschen die KEINE Sexarbeiter*innen sind, wird eher Glauben geschenkt, auch wenn es um Sexarbeit geht.
  • Diese Gespräche setzen den Fokus oft auf die Bedürfnisse der privilegierten Gruppe, nicht auf die der unterdrückten Gruppe. Zum Beispiel indem argumentiert wird, dass Sexarbeit negative Auswirkungen auf Frauen hat, die keine Sexarbeiter*innen sind – „Strip Clubs führen zu mehr Gewalt“, „Männer werden denken, es sei okay, Frauen zu kaufen“, etc.
  • Sexarbeiter*innen wird in öffentlichen Debatten oft vorgeworfen, dass sie nicht repräsentativ für die Mehrheit seien. Unabhängig davon, dass Beweise zeigen, dass die Mehrheit nicht aus dem Menschenhandel kommt, nicht gezwungen wird und das Nordische Modell nicht will.

Immer wieder zu sprechen und dabei nie gehört zu werden, ist anstrengend und verletzend.

People of Colour, Trans*menschen und Menschen mit Behinderung kennen es schon lange – die ständige Erwartung ihnen gegenüber, die eigenen Rechte zu verteidigen und andere privilegiertere Gruppen über ihre Unterdrückung zu informieren. Damit kommt die Enttäuschung, Wut und Verletzung, wenn man zum wiederholten Mal nicht gehört wird.

Wenn radikale Feministinnen wirklich daran interessiert wären, über Sexarbeiter*innenrechte zu lernen, könnten sie sich selbst informieren. Anstatt uns immer wieder um eine kostenlose Weiterbildung zu bitten und dann unsere Erfahrungen klein zu reden oder zu leugnen.

Wenn Menschen wirklich den Wunsch haben zu lernen, gibt es so viele Ressourcen und Informationen da draußen. Ich glaube, diese Debatten mit Sexarbeits-Gegner*innen als eine Form der epistemischen Ausbeutung zu begreifen, kann uns helfen, neue Wege des Informationsaustauschs zu finden – mit denjenigen , die lernen wollen, aber auch bei der Auseinandersetzung mit Widerständen.


Dieser Text stammt von der ehemaligen Sexarbeiterin Victoria Bee. Die Doktorandin forscht derzeit an der Londoner Universität Roehampton zu häuslichen und familiären Gewalterfahrungen von Sexarbeiter*innen. Sie ist bei SWARM und beim English Collective of Prostitutes aktiv. Mehr Inhalte von ihr findest du in ihrem Twitter-Account und in ihrem Blog Forged Intimacies.

Mit Victorias Einverständnis haben wir ihren Originaltext Epistemic exploitation of sex workers, or why debates about sex work are never a good idea verkürzt, vereinfacht und dürfen ihn hier veröffentlichen. Vielen Dank für die super Übersetzung ins Deutsche an BesD-Mitglied Emilia Melusine (Website in progress) alias Emily TS (KM-Profil)!

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