„Das Gegenteil von Gewalt“: Internationale Konferenz ESWA empfiehlt Entkriminalisierung von Sexarbeit


Die Konferenzsprache auf der ESWA-Konferenz 2023 war Englisch. In den vielen, gehaltvollen Beiträgen. Aber zumeist auch in den mir so wichtigen persönlichen Gesprächen in den Pausen und am Abend. Mir schwirrt immer noch der Kopf von meinen Übersetzungs- und Wortfindungsbemühungen. Von daher schreibe ich diesen Bericht aus meinem gefühlten Wissen heraus. Das, was mir als interessant begegnete und von mir mitgenommen werden wollte. Bei manchen dieser Beiträge spürte ich über deren Websites und Veröffentlichungen Wissenslücken auf.

Für alle die mehr hören und sehen wollen ⇒ Video-Playlist mit zahlreichen Beiträgen von der Konferenz am You-Tube-Channel von ESWA


Alle wissenschaftlichen Studien dieser Konferenz zeigten,  wie schädlich eine Kriminalisierung von Sexarbeit für die Gesundheit und Sicherheit von Prostituierten ist.

Stellvertretend nenne ich hier die bekannte Studie von Niina Vuolajärvi „Criminalising the Sex Buyer: Experiences from the Nordic Region“ (Kriminalisierung von Sexkäufer*innen: Erfahrungen aus den Ländern mit Nordischen Modell).

Sie zeigt die Überschneidung eines „Sexkaufverbots“ mit der Migrationsproblematik, und einer damit einhergehenden Verschärfung der Einwanderungs- und Abschiebepolitik.

Nachdem auch in den Nordischen Ländern zumeist migrantische Menschen in der Prostitution tätig sind, könnte das „Nordische Modell“ demnach auch als ein spezieller Akt der CRIMMIGRATION bezeichnet werden.

Die Verschmelzung von Kriminalität und Migration, von Prostitutions- und Einwanderungskontrolle, von Strafrecht und Migrationsrecht.

Hier zeigt sich bereits, dass in der Diskussion um ein „Sexkaufverbot“ Themen verhandelt werden, die nicht nur prostitutionsspezifisch sind. Es geht um Intersektionalität, die aber im Nordischen Modell hinter der Hauptzielrichtung einer schleichenden Abschaffung der Prostitution verschleiert wird.

„Kriminalitätskontrolle ist von jeher mit der Konstruktion des ‚Anderen‘ verbunden und nimmt das ‚Fremde‘ und die ‚Fremden‘ in den Blick.“
(M. Althoff, Chr. Graebsch: Crimmigration – die Verschmelzung von Kriminalität und Migration, in: Kriminologisches Journal 1/22)

Und wir Sexarbeitenden waren schon immer die „Anderen“, so wie migrantische Menschen leider immer noch allzu oft als die „Fremden“ angesehen werden. Und wenn ein Großteil meiner Kolleg*innen, – egal ob nun legal oder illegal, – nach Deutschland kommen, um durch eine Tätigkeit in der Prostitution für sich und ihre Angehörigen zu sorgen, dann lässt sich die Migrationsproblematik ganz unauffällig auch über ein Prostitutionsverbot gleich mit lösen.

Von daher erscheint mir das Nordische Modell mit seinem „Sexkaufverbot“ und der Kriminalisierung von „third parties“ fast wie ein Trojanisches Pferd der Migrationskontrolle.

„Decriminalisation is the answer to many of the issues that we face. All the evidence points to it.“ (Luca Stevenson, Director of Programmes ESWA)

Entkriminalisierung ist die Antwort auf viele der Probleme denen wir gegenüberstehen. Alle Forschungsergebnisse deuten darauf hin.


I. Mein Blick auf ausgewählte Beiträge

Ruby Rebelde zum Thema: Intersektionale Analyse von Sexwork-Phobie in Westeuropa

Ruby Rebelde hat in ihrem Vortrag „Intersectional analysis on sexworkphobia in Western Europe“ hervorgehoben, dass viele der gesellschaftlich existierenden Diskriminierungsformen sich mit Sexworkphobie kreuzen.

Rassismus (migrantische Biographien), Anti-Romanism/Anti-Sintizzism, (trans-)Misogyny-Sexismus und Ableismus sind nur einige ihrer Beispiele. Es geht also um die gesellschaftliche Mehrfachdiskriminierung von Sexarbeitenden. Um Intersektionalität.

„Sexworkphobia ist die strukturelle und systemische Verflechtung von institutioneller, ökonomischer, kultureller und individueller Diskriminierung, der Sexarbeiter*innen ausgesetzt sind, die sich in aktuellen politischen, kulturellen und sozialen Phänomenen wie Othering oder Ausgrenzung widerspiegeln.“ (Ruby Rebelde, ESWA-Conference 12/2023)

In der aktuellen Debatte um das „Sexkaufverbot“ werden fast schon klandestin gesamtgesellschaftliche Themen und Strömungen verhandelt, die eben nicht ausschließlich die Sexarbeit betreffen.

Und so teile ich Rubys Überzeugung einer notwendigen Vernetzung mit zivilgesellschaftlichen Organisationen als ein Gebot der Stunde. Sexworkphobia spiegelt Phänomene, die Viele angehen. Bündeln wir unsere Kräfte mit ebenfalls Betroffenen.

Im persönlichen Gespräch wies Ruby auch auf die Gefährdung unserer Infrastruktur, insbesondere der Fachberatungsstellen, unter einem „Sexkaufverbot“ hin. Eine Befürchtung, die eine Sozialarbeiterin vom Gesundheitsamt Leipzig mir bereits zuvor bestätigt hatte: „Wir sitzen alle im selben Boot“.

Daher müsste eine aktivistische Sexarbeit sich auch für den Erhalt unserer Infrastruktur einsetzen. Während des „kleinen Sexkaufverbots“ (Corona-Pandemie) blieb diese glücklicherweise ja noch erhalten.

Marion Pluskota zum Thema:
Gesundheit, Krankheit, Macht – Die Darstellung von Sexarbeitenden als Infektionsverursacher*innen

Marion Pluskota ist eine Historikerin von der Leiden University in den Niederlanden. In ihrem Vortrag „Health, disease and power: framing sex workers as a source of infection“ hat sie einen für mich, und auch einen für das Heute wichtigen Gegensatz aufgestellt.

Seit dem „langen 18.Jahrhundert der Aufklärung“ wird Sexarbeit in dem Spannungsfeld von „an urban issue“ oder „a state problem“ verortet. Also, was ist vor Ort, in den Städten erlaubt? Welche Probleme gibt es? Wie kümmert sich die Polizei darum? Lokalpolitik. Und wie ist das Thema Sexarbeit auf staatlicher Ebene gesetzlich geregelt?

Gerade in der aktuellen Diskussion über das „Sexkaufverbot“ finde ich diese Unterscheidung hilfreich.

So wichtig die Verhinderung dieses Gesetzesvorhaben auf bundesstaatlicher Ebene ist, dürfen wir die lokale Ebene dabei nicht aus den Augen lassen. Die konkreten Probleme und Bedürfnisse vor Ort. Sowohl der Sexarbeiter*innen, als bspw. auch der Anwohner*innen – der Öffentlichkeit – und natürlich der Lokalpolitiker*innen.

Wir brauchen für die Verhinderung eines „Sexkaufverbots“ vor allem die öffentliche Meinung, die Menschen. Und die gewinnen wir am ehesten vor Ort, wo Sexarbeit ein greifbares, begreifbares Thema ist. Ein „runder Tisch Sexarbeit“, wie es ihn bspw. in Hamburg gibt, könnte solch ein Ort für urban issues sein.

Aber nachdem das Thema „Prostitution“ so moralisch und ideologisch besetzt ist, bedarf es vor allem Aufklärung und Information in der Gesellschaft darüber.

Layla und Mark Ferbrache: Zur Weiterbildung von Medizin-Student*innen im Bezug auf die komplexen Bedürfnisse von Sexarbeitenden und gegen Stigmatisierung

Von einer Möglichkeit, insbesondere im Hinblick auf das Thema „Public Health“, hat der Vortrag von Layla Ferbrache (The Sex Worker Union) Sex Workers‘ Union) & Mark Ferbrache (Bristol Sex Workers Collective and Terrence Higgins Trust, UK) „On training medical students to understanding sex workers‘ complex needs and eradicating stigma“ berichtet.

In einer zunehmend marginalisierten Welt, kann das Verständnis von Sexarbeiter:innen als Randgruppe par excellence auch ein generelles Verständnis für alle anderen marginalisierten Menschen schaffen.

Countess Diamond und Josie West: Digitale/Online-Gewalt gegenüber Online Sex Work/ern

Ein Beitrag, der mich absolut überraschte, kam von Countess Diamond und Josie West über „Data Violence Against Online Sex Work“. Ich kannte bisher nur die Probleme, wenn Social-Media-Accounts von Sexarbeiter*innen gesperrt oder gelöscht werden.

Allein dadurch erfolgt bereits ein Verlust von Followern und Content. Als aber Countess Diamond erzählte, wie ihre Bilder und Videos mit ihrer Arbeit und ihren Skills, ihrem Know-How gestohlen und in anderen Kontexten verkauft wurden; wie ihre Einnahmen und ihr Bankkonto gehackt wurden, so dass sie finanzielle Verluste bis hin zum Verlust ihres Kontos hatte, spürte ich körperlich diese ausgeübte, digitale Gewalt an ihr als Menschen.

Ein zunächst unbemerkter Raub von ihrem geistigen, finanziellen und professionellen Eigentum zum Zwecke einer Bedürfnisbefriedigung. Eine Art digitaler KO-Tropfen zum Zwecke der digitalen Vergewaltigung. Mit all den negativen Gefühlen von Hilflosigkeit, Wut, und Empörung.

Aber sie hat bereits begonnen, sich zu wehren:

„We intend to build ethical labour standards (@TowardsFairWork) into a platform cooperative for online sex workers, to combat wide spread stigma and criminalisation.“ (Countess Diamond on X, formerly Twitter)

Unser Ziel ist der Aufbau ethischer Arbeits-Standards  im Rahmen einer Plattform die mit Online Sexworkern kooperiert. Damit planen wir, die weit verbreitete Stigmatisierung und Kriminalisierung zu bekämpfen. (Countess Diamond auf X, ehemals Twitter)

Damit meint sie eine Zusammenarbeit mit FairWork. Dieses Projekt ist am Oxford Internet Institute und dem WZB (WissenschaftsZentrumBerlin) angesiedelt, um den Menschen in der wachsenden gig economy (Plattformökonomie) eine angemessene Bezahlung, bessere Arbeitsbedingungen und Sicherheit zu verschaffen.

Sie arbeiten dafür eng mit Arbeiter*innen, Gewerkschaften, Plattformunternehmen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und politischen Entscheidungsträger*innen in 38 Ländern zusammen.

Stavroula Triantafyllidou zum Thema: Nicht-einvernehmliches/Heimliches Abziehen des Kondoms ohne Wissen der Sexarbeiterin

Auch der Beitrag von Stavroula Triantafyllidou (StreetWork Coordinator at Red Umbrella Athens, Greece) „Non-consensual condom removal (stealthing) in female sex workers“ befasste sich mit einem Aspekt von Gewalt an Sexarbeitenden.

Die berechtigte Diskussion über Gewalt in der Prostitution wird meines Erachtens zu eindimensional geführt, indem sie sich lediglich auf die sogenannte „Zwangsprostitution“ beschränkt. Dieses Thema ist ebenso vielfältig wie unsere Arbeits- und Lebensrealitäten.

Stealthing ist einvernehmlicher Sex mit nicht einvernehmlicher Kondomentfernung. Das heimliche Abziehen des Kondoms. Ein erschlichenes AO, das nicht nur die körperliche Unversehrtheit von uns Sexarbeitenden, sondern auch unsere sexuelle Autonomie missachtet.

Folge dieses sexuellen Missbrauchs sind Angst vor ungewollter Schwangerschaft und sexuell übertragbaren Krankheiten. Aber auch Scham und das weniger konkrete Gefühl einer tief empfundenen Gewalterfahrung. Ohnmacht. Wut. Hilflosigkeit.

Stealthing betrifft leider auch männliche und trans Sexarbeitende. Und es ist auch eine recht verbreitete Praktik außerhalb der Prostitution. Wir leben nun mal in einer patriachalen und kapitalistischen Gesellschaft.

Netzwerk „Safety First Wales (SFW)“ zum Thema Basis-Einkommen für Mütter/Eltern in der Sexarbeit

Safety First Wales ist für mich ein beispielhaftes Projekt einer neuartigen Vernetzung von Sex Workers jenseits eines vereinzelnden Zielgruppendenkens. „

SWF is a coalition of sex workers, health professionals, church representatives, anti-poverty, anti-violence, anti-racist and trans rights campaigners – formed to decriminalise sex work in Wales and prioritise sex workers` safety, health and well-being.“

Die Prostitution nimmt in ganz Großbritannien zu, weil die Armut dort zunimmt.

Und nachdem überwiegend Frauen (85-90%), zumeist Mütter und Migrant*innen, in der Prostitution tätig sind, schlägt SFW u.a. ein „care-income“ für Mütter/Eltern in der Sexarbeit vor.

Entsprechend einem erst kürzlich (Januar 2023) erlassenen hawaiianischen Gesetz zum „basic-income of $2000 a month to sex workers aiming to exit prostitution“ (SB3347, hawaii.gov)

Paola Gioia Macioti zum Thema:
Gesundheit und Wohlbefinden von Sexarbeitenden in Systemen in denen Sexarbeit nicht kriminalisiert ist

Belgien, Australien und Neuseeland gelten als Vorreiter einer Dekriminalisierung von Sexarbeit. PG Macioti, von der La Trobe University/Australia, fasste in ihrem Vortrag „Health and well-being of sex workers in decriminalized contexts“ vorhandene Forschungsergebnisse von zwei Standorten zusammen, an denen Sexarbeit seit mehreren Jahren entkriminalisiert ist: dem australischen Bundesstaat New South Wales und Neuseeland.

Ihre Review-Studie beschreibt sowohl Verbesserungen der Gesundheit und des Wohlbefindens als auch des Zugangs zu und der Nutzung von Gesundheitsdiensten bei verschiedenen Sexarbeiterinnen in Bezug auf Geschlecht, Migrationsgeschichte, kulturelle Hintergründe und Art der Sexarbeit in den beiden Gerichtsbarkeiten.

Diese Verbesserungen hängen mit der Entwicklung einer peer-basierten Öffentlichkeitsarbeit und der Bereitstellung von Dienstleistungen durch und für verschiedene Sexarbeiterinnen an beiden Standorten zusammen.

Die Studie hebt auch eine Reihe bestehender regulatorischer Bedenken hervor, darunter die anhaltende Illegalisierung ortsbezogener Aspekte der Sexarbeit auf der Straße (NSW) und der gebietsfremden Sexarbeit von Migranten (Neuseeland).

PG Macioti kommt zu dem Fazit, dass die Beweise aus beiden Länder eine vollständige Entkriminalisierung der Sexarbeit als notwendigen ersten Schritt erfordern, um gesundheitliche und soziale Ungleichheiten in dieser äußerst vielfältigen und stigmatisierten Berufsgruppe anzugehen.

Decriminalisation (DECRIM) ist demnach das beste Modell zum Schutz der Gesundheit und Rechte von Sexarbeiterinnen.

DECRIM SEX WORK! NOW!

Nadia, Koordinatorin der Sexarbeits-Union UTSOPI, zum Thema Entkriminalisierung von Sexarbeit in Belgien

Für uns Sexarbeiter*innen in Europa ist meines Erachtens die Entwicklung in Belgien noch viel wichtiger, weil sie einen gangbaren Weg jenseits des Nordischen Modells innerhalb der EU aufzeigt.

Einen Weg, gekennzeichnet von Anerkennung und Respekt von Sexarbeit als Beruf.

„We can no longer turn a blind eye and pretend that sex work does not exist. I want to give a voice to a group that is not being heard.“ (Pierre-Yves Dermagne, Wirtschafts- und Arbeitsminister, Belgien)

Wir können nicht länger die Augen verschließen und so tun, als gäbe es die Sexarbeit nicht. Ich möchte einer Gruppe eine Stimme geben, die nicht gehört wird.

Kein Vergleich zu Olaf Scholz Äußerung über die „Zurückdrängung der Prostitution“! Weder in der Haltung, noch in der Wortwahl.

Nadia (UTSOPI Koordinatorin) gab uns mit ihrem Vortrag „Decriminalisation of sex work in Belgium“ einen Einblick sowohl in ihr Land als auch in die aktivistische Arbeit ihrer Organisation.

„UTSOPI is the Belgian union of sex workers organized for independence. The independence of our bodies, our choices and our lives.“ (UTSOPI, Belgien)

UTSOPI ist die belgische Sexworker-Union – uns geht es um die Unabhängigkeit und Autonomie unserer Körper, unserer Entscheidungen und unserer Leben.

Gleiche Rechte für Sex Worker zu erreichen, ist unmöglich, solange Sexarbeit teilweise oder ganz kriminalisiert ist. Der erste Schritt zur Ent-Kriminalisierung in Belgien wurde auch durch die aktivistische Mitarbeit von staatlich unterstützten „community organisations“ wie bspw. UTSOPI am 1. Juni 2022 beschritten.

Zuvor existierte dort eine um das „Sexkaufverbot“ reduzierte Version des Nordischen Modells. Eine „Criminalizing-all-third-parties“-Politik.

Damit gemeint ist letztendlich: Die Kriminalisierung/“Verpimpung“ aller möglichen Unerstützer*innen (Bordellbesitzer, Steuerberater, Vermieter, Babysitter,..), um somit eine langsame, schleichende Abschaffung der Prostitution zu erreichen.

Der nächste Schritt hin zu einer Gleichberechtigung ist das Vorhaben eines Arbeitsgesetzes für angestellte Sexarbeitende, mit dem Ziel eines besseren Schutzes vor Missbrauch und Ausbeutung.

Eine Absicherung durch das allgemeine Sozialversicherungssystem ist vorgesehen, und die mögliche Ablehnung von Kund*innen und Praktiken soll sichergestellt werden.

„The safety and wishes of the sex worker are key.“ (Vincent Van Quickenborne, Belgischer Justizminister, The Brussels Times/26.June 2023)

Entscheidend sind: Die Sicherheit und die Bedürfnisse/Wünsche von Sexarbeitenden.

„Two pairs of gloves: sex workers` experiences of stigma and discrimination in Europe“ ist eine aktuelle ESWA-Studie von 12/2023.

Sie zeigt die positiven Auswirkungen von Entkriminalisierung auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Sexarbeiter*innen.

Und es überrascht dabei auch nicht, dass „Belgien (…) der einzige Kontext [war], in dem Sexarbeitende berichteten, dass sie sich wohler fühlten als woanders, sowohl bezüglich der Offenlegung ihrer Sexarbeit, als auch bezüglich eines selbstbewussten Auftretens, nachdem sie bereits Stigmatisierung und Diskriminierung im Gesundheitswesen erlebt hatten.“

II. Meine persönlichen Schlussfolgerungen: Ein Vorschlag

Die sofortige Entkriminalisierung der Sexarbeit ist die Antwort auf viele unserer Probleme als Sexarbeitende. Dazu nochmal der eingangs zitierte Programmdirektor von ESWA:

„Decriminalisation is the answer to many of the issues that we face. All the evidence points to it.“ (Luca Stevenson, Director of Programmes ESWA)

Entkriminalisierung ist die Antwort auf viele der Probleme denen wir gegenüberstehen. Alle Forschungsergebnisse deuten darauf hin.

Die Forderung „DECRIM SEXWORK NOW“ wäre für mich das Gegenteil von Gewalt, dem wir Gehör und Wirksamkeit verschaffen müssen.

Aber wie lässt sich dieses Vorhaben erreichen, in einem zunehmend sexarbeiterfeindlichen Klima in West-Europa?

Im Nachgang, beim Schreiben über diese Konferenz, schälten sich für mich vier Themenbereiche heraus, die ich als kumulative „Lautsprecher“ für unsere DECRIM-Antwort vorschlage. 4 Kanäle, um die Arbeits- und Lebensrealitäten aller Sexarbeitenden zu verbessern.

1) ÜBER FORSCHUNGSERGEBNISSE INFORMIEREN

Die guten, seriösen Studien über die negativen Auswirkungen des Nordischen Modells, insbesondere auf migrantische Menschen in der Sexarbeit, sind ausreichend vorhanden. Wir müssen sie (weiterhin) verstärkt publik machen. In der Öffentlichkeit. In der Politik. Als Beiträge in „urban issues“-Diskussionen. Als Beiträge in Debatten über Prostitution als „state problem“.

2) VERNETZUNG MIT ZIVILGESELLSCHAFT

Es bedarf einer Vernetzung/Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, um gemeinsame Themen solidarisch in die gesellschaftliche und politische Öffentlichkeit zu tragen. Denn in der anhaltenden Debatte um ein schleichendes Prostitutionsverbot werden meines Erachtens geradezu stellvertretend gesamtgesellschaftliche Themen des „Fremden“, der „Anderen“ wie bspw. Migration, Rassismus, Gender, Sexismus, Armut, patriachale Gewalt, Selbstbestimmungsrecht von Frauen*, Wohnungslosigkeit, Drogenkonsum,… verhandelt.

Ich bin überzeugt: Wenn wir bei gemeinsamen Interessen/Betroffenheiten unsere Kräfte bündeln und gemeinsam Position beziehen, können wir gruppenübergreifende Synergieeffekte erzeugen. Eine neuartige, innovative Vernetzung jenseits allen Zielgruppendenkens wäre dafür erforderlich.

3) DAS „BELGISCHE MODELL“ ALS GEGENBILD STÄRKEN

Es existieren Studien über Länder mit entkriminalisierter Sexarbeit, die gehört werden müssen. Warum erzählen wir nicht verstärkt dieses Narrativ von einer möglichen, besseren Sexarbeitswelt als Gegenbild zum Nordischen Modell? Wie hat Belgien diese andere Haltung erreicht? Was wurde dort anders gemacht? Was können wir von Belgien lernen?

4) AUSEINANDERSETZUNG MIT GEWALT IN DER SEXARBEIT

Und last but not least: Wir (aktivistischen) Sexarbeitenden dürfen das Thema „Gewalt in der Sexarbeit“ nicht außen vor lassen.

Ein verbales und – mit fiktiven Zahlen gestütztes – statistisches auseinander Dividieren in Prostituierte und Sexarbeitende von Seiten der Prostitutionsgegner*innen lenkt für mich davon ab, dass alle Menschen in der Prostitution meine Kolleg*innen sind, und dass auch wir Sexarbeiter*innen von Gewalt betroffen sind. Tagtäglich.

Die Vielfältigkeit dieser Gewalt reicht von bereits strafrechtlich geregelten Makroaggressionen – Vergewaltigung, Zuhälterei, Menschenhandel, Zwangsprostitution und Femiziden, die verstärkt verfolgt und vor Gericht gebracht werden müssen – bis hin zu unseren alltäglichen Mikroaggressionen wie bspw. persistente AO-Anfragen und einer ausufernden Sperrgebietspolitik.

Und natürlich existiert auch ein Graubereich zwischen diesen beiden Extremen. Zu nennen wären da „Data violence against online sex worker“ und „Stealthing“.

Damit MY BODY – MY CHOICE wieder zu einer „grundfeministischen Forderung“ (Ruby Rebelde) werden kann.