Sexworker appellieren an Politik: Hören Sie auf die Wissenschaft, nicht auf Schlagworte!

Ein offener Brief eines unserer Mitglieder an die Politikerinnen, die derzeit für das nordische Modell für Deutschland trommeln – dem Verbot des Kaufs von sexuellen Dienstleistungen zwischen dazu einwilligenden Erwachsenen.


Sehr geehrte Frau Bundesministerin Warken,
Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin Klöckner,

als Mitglied des Comité Prostitution, das die Luxemburger Regierung zu Fragen der Sexarbeit berät, sowie als Sozialwissenschaftler, der seit Jahren mit Forscher*innen, Beratungsstellen und Betroffenen spricht, bitte ich Sie eindringlich:

Stützen Sie politische Entscheidungen zur Prostitution auf robuste Evidenz – nicht auf moralische Schlagworte.

Ihre jüngsten Aussagen zum Sexkaufverbot klingen entschlossen, aber die beste verfügbare Forschung spricht klar gegen sogenannte „End-Demand“-Ansätze und für Entkriminalisierung als Schutz- und Gesundheitsstrategie.


📌Evaluierte Realität in Irland und Nordirland

Die offizielle Evaluierung des Justizministeriums in Nordirland (2019) fand keinen Nachweis dafür, dass die Kriminalisierung der Käufer die Nachfrage senkt.

Gleichzeitig zeigten sich Risiken: stärkere Stigmatisierung, Verlagerung in unsichere Settings, schwierige Durchsetzbarkeit.

Kurz gesagt: Die versprochene Wirkung bleibt aus, die Nebenwirkungen treffen die Betroffenen.

 


📌 Kanada: dokumentierte Schäden seit PCEPA (2014)

Peer-reviewte Public-Health-Forschung aus Vancouver und nationale Analysen zeigen nach der Kriminalisierung der Klient*innen konsistent: wenn Kundschaft kriminalisiert wird, sinkt die Sicherheit.

Sexarbeiter*innen haben weniger Zeit zum Screening, geringere Verhandlungsmacht, erschwerte Kondomnutzung, erleben mehr Gewalt und schlechtere Zugänge zu Schutz und Gesundheit.

Der Justizausschuss des kanadischen Unterhauses empfahl 2022/23 folgerichtig eine Kurskorrektur, weil PCEPA Sexarbeiterinnen nachweislich schadet.

 


📌 Internationale Fachgremien: Entkriminalisierung schützt

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Partnerprogramme wie UNAIDS empfehlen seit Jahren die Entkriminalisierung einvernehmlicher Sexarbeit. Kriminalisierung untergräbt Sicherheit, Gesundheit und Rechte; Modellierungen zeigen substanzielle Vorteile für Prävention und Versorgung.

Amnesty International beschloss 2016 nach globaler Evidenzprüfung dieselbe Linie.

Diese Empfehlungen schließen konsequente Maßnahmen gegen Zwang, Kinder- und Menschenhandel ausdrücklich ein – aber ohne pauschale Kriminalisierung einvernehmlicher Arbeit.

 


📌 Sprache und Stigma

Stigmatisierende Rhetorik treibt die Arbeit in versteckte, riskantere Umgebungen – genau dort, wo Kontrolle, Prävention und Opferschutz am schlechtesten greifen.

Bitte setzen Sie ein anderes Signal: Rechte stärken, Barrieren abbauen, evidenzbasierte Maßnahmen finanzieren.

Aussagen wie „Bordell Europas“ verfälschen das Problem und erschweren Vertrauen in Polizei und Hilfsstrukturen.

 


📌 Stimmen aus Forschung und Praxis

Ich habe in den letzten Monaten mit Wissenschaftler*innen und Menschen gesprochen, die jeden Tag mit Sexarbeiterinnen arbeiten. (Quelle: forum_story „Sexarbeit in Luxemburg“)

Angela Jones (USA), Soziologin, die seit Jahren empirisch untersucht, wie sich Kriminalisierung der Nachfrage auswirkt, beschreibt:

„Sexarbeit wird dadurch nicht sicherer. Kund*innen ziehen sich zurück, treffen sich schneller, an abgelegeneren Orten – Sexarbeiterinnen verlieren die Möglichkeit, Menschen einzuschätzen oder Kondome durchzusetzen.“

Das Risiko von Gewalt, Betrug und Erpressung steigt.

Wíner Ramírez Díaz, Sozialarbeiter in Paris, sieht seit Einführung des Nordischen Modells in Frankreich genau das:

„Die Arbeit verschwindet aus dem öffentlichen Raum, aber nicht aus der Realität. Sie wird unsichtbarer – und unsichtbarer heißt verletzlicher.“

Menschen verlieren Sicherheit, Wohnraum und Zugang zu Gesundheitsversorgung, weil jede Spur ihrer Arbeit kriminalisierbar bleibt – wenn auch nur indirekt.

Salomé Lannier, Juristin und frühere Befürworterin des Nordischen Modells, kam nach systematischer Forschung zu einem anderen Schluss:

„Wenn man wirklich schützt, stärkt man Rechte – anstatt Menschen in Abhängigkeit und Armut zu drängen.“

Ausstiegsprogramme in Frankreich kommen teilweise auf rund 300 € im Monat – zu wenig, um auch nur eine Wohnung zu halten. Ein Ausweg, der in die Obdachlosigkeit führt, ist kein Schutz.


📌 Die Bilanz: Mehr Schaden als Schutz

Zahlreiche Studien belegen: Das Nordische Modell führt zu mehr Gewalt gegen Frauen in der Sexarbeit, zu weniger Kondomnutzung, zu mehr Infektionen mit HIV und anderen STIs und zu mehr Misstrauen gegenüber der Polizei – sodass Sexarbeiterinnen Gewalt seltener anzeigen.

Auch die Deutsche Aidshilfe spricht sich daher gegen das Nordische Modell aus.

Ich bitte Sie eindringlich: Bitte hören Sie auf die Wissenschaft!

Wenn Sie das nicht tun, wird das fatale Konsequenzen für zahlreiche Menschen haben.

 

Mit Respekt für die Zielsetzung, aber in Sorge um die tatsächlichen Folgen,

Jeff Mannes


 Quellen


Jeff Mannes war früher selbst in der Branche tätig, ist Soziologe, Sexualpädagoge und freier Autor. Er engagiert sich für die Rechte von Sexarbeitenden, arbeitet für die Deutsche Aidshilfe und ist in Berlin als selbstständiger Stadtführer u. A. zur Geschichte der Sexualität und Sexarbeit, sowie zur kinky und sex-positiven Szene der Stadt aktiv.