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Plädoyer gegen die Tabuisierung von Pornografie und anhaltende Sexualmoral

Die Tagesschau berichtet am 7.4.20 auf twitter

Zitat von Tobias Schmid, Chef Landesanstalt für Medien NRW
„Wenn bei Kindern der Eindruck entsteht, Gangbang ist eine normale Sexualpraktik, in der die Frau benutzt und gedemütigt wird, dann ist das sicherlich ein extremes Problem.“

Schmid will die reichweitenstärksten Porno-Portale dazu zwingen, in ihren deutschsprachigen Angeboten eine wirksame Altersbeschränkung einzuführen.

@tagesschau

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Antwort von Madita Oeming, Uni Paderborn
Promotion zu „Pornosucht“ als moralische Panik
Web: https://uni-paderborn.academia.edu/MaditaOemingMA

@MsOeming
Lieber Tobias Schmid, da Sie offenkundig weder „Kinder“, noch das Internet, noch Pornos, NOCH Gangbangs besonders gut verstehen, hier ein Thread für Sie… #Jugendschutz

(1)
Erstmal zur Wirksamkeit: Altersbeschränkungen zu umgehen ist ein (Pun intended) KINDERSPIEL! Den Ausweis von Mama klauen, den großen Bruder fragen, per VP Client aus anderem Land zugreifen, und, und, und… Digital Natives sind verdammt clever!

(2)
Wenn auch nur EINE Person sich Zugriff verschafft, kann sie runterladen oder screengrabben und mit einem Klick an die ganze Klasse per WhatsApp-Gruppe, E-mail etc. verschicken und die alle ebenso. Im Nu können sich Bilder so trotzdem verbreiten.

(3)
Selbst WENN der Online-Zugriff erfolgreich verwehrt würde, gibt es immer noch die Offline-Varianten: Festplatten voll mit Pornos oder DVDs. Glauben Sie, vor Breitbandinternet wurden von Minderjährigen keine Pornos geschaut & getauscht? Wozu gab es LAN-Parties?

(4)
Vergleichbar wie im Internet müssen die jungen Menschen danach nicht unbedingt aktiv suchen. Sie können über die Sammlung der Eltern oder Geschwister stolpern, im Kiosk über Magazine, können in ihrer Peer Group ungefragt damit konfrontiert werden.

(5)
Kurz gesagt: ES IST UNMÖGLICH, MINDERJÄHRIGE GÄNZLICH VON PORNOGRAFISCHEN INHALTEN ABZUSCHOTTEN! Egal, was Sie sich ausdenken. Deshalb müssen wir sie anders schützen: mit Aufklärung!

(6)
Kinder sind sehr wohl in der Lage zu verstehen, was Fiktion und was Wirklichkeit ist. Sie schaffen das auch bei PawPatrol oder Superman oder Harry Potter. Wir sollten Kinder nicht unterschätzen!

(7)
Natürlich kann das bei Pornos schwerer fallen, weil echte Menschen mit echten Körpern „echten“ Sex haben und junge Menschen zunächst noch keine eigene sexuelle Erlebniswelt haben, mit der sie das Gesehene abgleichen & Widersprüche erkennen können.

(8)
Deswegen muss es ihnen jemand ERKLÄREN: Dass die Menschen bezahlt und gecastet wurden, um ein Drehbuch nachzuspielen, inmitten eines Teams von Ton, Licht und Kamera. Dass wir ganz viel nicht sehen im fertigen Bild. Das Vorher, das Nachher, das Drumherum. Das geht.

(9)
Gleichzeitig sollte ihnen Sexualwissen vermittelt werden, nicht nur zu Schwangerschaft & Geschlechtskrankheiten, sondern zu Lust, sexueller Orientierung und Consent. Damit sie das Gesehene wenigstens mit dem Gelernten, wenn noch nicht mit dem Erlebten, abgleichen können.

(10)
Ich sage es nochmal: CONSENT!!! Würden alle jungen Menschen lernen, ihre eigenen sexuellen Grenzen zu kennen, klar zu kommunizieren und zu schützen, sowie die anderer abzufragen und zu respektieren, könnten wir uns so viele dieser Unterhaltungen gänzlich sparen.

(11)
Zu guter Letzt muss festgehalten werden, dass Pornos auch ein wichtiges Hilfsmittel sein können, die eigenen Vorlieben & Fantasien, und durch Masturbation auch den eigenen Körper, sicher zu erkunden – durchaus auch vor der Volljährigkeit.

(12)
Insbesondere queere Menschen, die ihre Sexualität im Mainstream kaum reflektiert sehen, beschreiben immer wieder, wie zentral Pornos in ihrer Selbstfindung und Selbstakzeptanz waren – durchaus auch vor der Volljährigkeit.

(13)
Sowieso sollten wir aufhören, so zu tun, als würde Sexualität erst mit dem Eintreten des 18. Lebensjahres angeknipst werden (bzw. in anderen Ländern mit 21). Wir entwickeln viel früher sexuelles Verlangen und sollten damit nicht allein gelassen werden!

(14)
Ebenso ist es ein Irrglaube, dass Menschen mit Eintreten der Volljährigkeit automatisch einen gesunden kritischen Umgang mit pornografischen Inhalten hätten. Die meisten Erwachsenen haben ihn nicht! Auch für uns ist das Thema in Scham, Schweigen & Unwissen gehüllt.

(15)
Ihr eigenes Fehlverständnis von Pornografie zeigt sich u.a. in Ihrer Formulierung der dargestellten „abnormalen Sexualpraktiken“ – das ist eine Wertung und Pathologisierung, auch „Kink Shaming“ genannt, die sich jemand in Ihrer Position nicht erlauben sollte.

(16)
Auch bei einem Gangbang handelt es sich um eine vielleicht seltenere aber keineswegs abnormale Praxis, bei der auch eine Frau im kontrollierten Setting nach Abstecken ihrer Grenzen verschiedene Fantasien erfüllen kann. Passiert dies uneinvernehmlich, ist das sexuelle Gewalt.

(17)
Ihre Darstellung als eine Praxis, die Frauen ausschließlich „benutzt und demütigt“, schreibt ein überholtes Narrativ der Frau als Opfer fort, in dem weibliche Sexualität gänzlich ausgeklammert wird. Hier zeigt sich ein viel schädlicheres Kernproblem.

(18)
Im übrigen bedeutet das Interesse daran, sich einen Gangbang im Porno anzuschauen keineswegs, dass man auch gerne selbst einen Gangbang erleben möchte. Das gilt für viele Fantasien, die Menschen ausschließlich im Porno ausleben.

(19)
Natürlich stimmt es, dass uns im Porno viele sexistische Narrative begegnen (wie in ALLEN Medien!). Aber ginge es Ihnen tatsächlich um Sexismus-Bekämpfung, würden Sie woanders ansetzen. Zum Beispiel alternative Pornografie und deren ethischen Konsum fördern.

(20)
Stattdessen machen Sie Pornos zum einfachen Sündenbock und mobilisieren existierende Ängste. Auch die Verwendung des Begriffs „Kinder,“ obwohl es primär um Teenager geht, scheint mir hier ein rhetorischer Kniff zu sein, den ich irreführend und problematisch finde.

(21)
Was ich mit all dem sagen will:

Die Tabuisierung von Pornografie, anhaltende Sexualmoral und Genderstereotype sowie der eklatante Mangel an umfassender, queer-inklusiver, sex-positiver Sexualaufklärung – DAS ist ein „extremes Problem,“ das wir angehen sollten.

Punkt.

Madita Oeming

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