Deutschland als „Puff Europas“ – wie alte Narrative neu aufgelegt werden
Als Bundestagspräsidentin Julia Klöckner Deutschland in ihrer Laudatio zum „Heldinnen-Award“ der Alice-Schwarzer-Stiftung als „Puff Europas“ bezeichnete, war die Aufregung groß – und doch folgte die Berichterstattung einem vertrauten Muster: laut, moralisch aufgeladen und ohne Betroffene selbst zu Wort kommen zu lassen.
Copy & Paste statt Recherche
Fast alle großen Medien übernahmen eine dpa-Meldung nahezu unverändert. Von der FAZ über die ZEIT bis zur BILD erschienen identische Schlagzeilen – ohne eigene Einordnung, Kontext oder Stimmen von Sexarbeitenden.
Nur wenige Journalist:innen, etwa bei der Neuen Zürcher Zeitung, zitierten Fachleute und wiesen auf die Vielschichtigkeit des Themas hin: Es gebe kein Modell, das zugleich Menschenhandel verhindert, Armut beseitigt und Selbstbestimmung stärkt.
Die altbekannte Erzählung vom Opfer
In den Kommentaren wie im Tagesspiegel, der Süddeutschen Zeitung oder beim RedaktionsNetzwer Deutschland dominierte ein Bild der Prostitution als Elend, Zwang und Gewalt.
Selbstbestimmte Sexarbeit wurde als Randphänomen abgetan – eine Erzählung, die seit Jahren wiederhol wirdt. Auffällig: Kaum eine Redaktion prüfte die oft genannten Zahlen.
Über 90 Prozent „Zwangsprostitution“? Warum diese Zahl nicht trägt
Julia Klöckner behauptete in ihrer Rede: „85 bis 95 Prozent der Prostitution in Deutschland sind unfreiwillige Armutsprostitution.“
Diese Zahl taucht seit Jahren in politischen Reden und Medienberichten auf – ohne wissenschaftliche Grundlage. Sie stammt nicht aus empirischen Studien, sondern aus Schätzungen von Organisationen, die Sexarbeit grundsätzlich ablehnen.
Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN), das 2350 Sexarbeitende befragt hat, kommt zu völlig anderen Ergebnissen: Die Motive für Sexarbeit sind vielschichtig, von ökonomischen Gründen bis zu bewusster Berufswahl. Eine simple Opfer-Täter-Erzählung verzerrt die Realität.
Was bringt ein Sexkaufverbot?
Politiker*innen wie Julia Klöckner oder Bundesgesundheitsministerin Nina Warken fordern ein Sexkaufverbot nach nordischem Vorbild. Prostituierte schützen, indem Freier bestraft werden? Klingt vielleicht auf den ersten Blick gut, funktioniert aber nicht
Forschungen aus Schweden, Norwegen, Frankreich und Kanada zeigen: Das Verbot verdrängt Sexarbeit in die Illegalität. Gewalt nimmt zu, die Gesundheitsversorgung verschlechtert sich, und Menschenhandel geht nicht zurück.
Auch die deutsch-schwedische Sozialwissenschaftlerin Susanne Dodillet zeigt: Das „nordische Modell“ ist gescheitert.
Sie forscht seit über zehn Jahren dazu an der Universität Göteborg und sieht im schwedischen Sexkaufverbot vor allem eines: „ein Moralgesetz“.
Es erreicht keines seiner Ziele – weder Schutz noch Ausstieg, sondern mehr Stigma, Angst und Armut. Statt Sicherheit schafft das Verbot Unsichtbarkeit. Statt Hilfe gibt es Kontrolle. Und wer weiterhin arbeitet, wird gezwungen, im Verborgenen zu bleiben – weit weg von Sozialarbeit, Gesundheitsdiensten und Polizei.
Kritik aus der Praxis
Fachberatungsstellen wie der Sozialdienst katholischer Frauen, die Diakonie und das Deutsche Institut für Menschenrechte warnen seit Jahren:
Ein Sexkaufverbot gefährdet genau diejenigen, die man schützen will. Es kriminalisiert Freier und verdrängt damit den Markt in Bereiche, wo Kontrolle und Hilfe nicht mehr greifen.
Das Institut für Menschenrechte schreibt:
„Verschiedene neue wissenschaftliche Studien zeigen, dass solche Verbote im Kontext von Prostitution das Risiko sexuell übertragbarer Erkrankungen erhöhen. Gewalt steigt, Arbeitsbedingungen verschlechtern sich. Menschenhandel verringert sich nicht.“
Alte Schlagworte, neue Runde
„Deutschland ist der Puff Europas“ – diese Formulierung ist kein neuer Befund, sondern ein Zitat, das wohl erstmals 2012 kursierte und in einer 2013 ausgestrahlten TV-Doku („Sex made in Germany“) präsenter wurde.
Seitdem wurde sie von abolitionistischen Kampagnen immer wieder aufgegriffen, um moralische Empörung zu erzeugen – selten, um Lösungen zu finden.
Journalismus braucht Fakten, keine Schlagworte
Die aktuelle Berichterstattung zeigt, wie dringend differenzierte Stimmen gebraucht werden. Wer seriös über Sexarbeit schreiben will, muss mit den Betroffenen sprechen, Zahlen prüfen und Stereotype hinterfragen.
Ein hilfreicher Leitfaden dafür ist die
👉 Handreichung zur Berichterstattung über Sexarbeit des Deutschen Journalistenverbands (DJV)
Denn was fehlt, ist nicht Empörung – sondern Evidenz, Respekt und Realitätssinn.


